Die Straße der schweren Jungs

Sonntag, 10. April 2016

Detail der Fußgängerbrücke für die Arbeiter der Fabrik Serp i Molot in Moskau
Beton brutal: Die Fußgängerbrücke der Fabrik „Serp i Molot“ an der Chaussee der Enthusiasten.
Seit Jahrhunderten führt eine schnurgerade Straße von Moskau in das 190 Kilometer entfernte Vladimir. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war die Vladimirskaja Doroga (Владимирская дорога) vor allem als wichtiger Handelsweg bekannt, doch nach dem Bau des Gefängnisses in Vladimir geriet sie in Verruf. Auf diesem Weg wurden die in Moskau Verurteilten ins Gefängnis gebracht; die Vladimirskaja sollte für lange Zeit das Letzte sein, was sie von der Welt sahen. In den letzten, unruhigen Jahrzehnten des Zarenreiches fungierte das berüchtigte Zentral-Gefängnis (Владимирский централ; Vladmirskij Zentral) zudem als Zwischen- und Sammelstation für politische Häftlinge – darunter viele kommunistische Revolutionäre – auf dem Weg in die Strafkolonien in Sibirien.
Nach der Festigung ihrer Macht nahmen sich die Kommunisten relativ schnell sämtliche Straßen und Plätze mit zweifelhaften Namen vor. Auch die Vladimirskaja geriet in ihr Visier. Zwar musste sie als Weg der kommunistischen Helden in die Verbannung geehrt werden, doch der Name wurde hauptsächlich mit ganz gewöhnlichen Kriminellen in Verbindung gebracht. Seit 1919 trägt die Straße daher den erhabenen Namen „Chaussee der Enthusiasten“ (шоссе Энтузиастов). Doch sehr bald geriet der Sinn des Namens in Vergessenheit, man hielt ihn für eine der vielen leeren Propaganda-Hülsen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion erhielten viele Straßen und Plätze wieder ihre alten Namen zurück – nicht so die Chaussee der Enthusiasten (zumindest innerhalb der Stadtgrenzen). Ohnehin hatte sie sich spätestens seit den 1980er Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert. Bis dahin dominierten hier die flachen, typisch russischen Holzhäuser und Wohnhäuser im Stalin-Empire das Bild. In den 1980ern aber wurde am Anfang der Straße die bereits existierende Metallverarbeitungsfabrik „Serp i Molot“ (Серп и Молот; Sichel und Hammer) auf eine Fläche von etwa 60 Hektar ausgedehnt; ringsum entstanden sehr schnell sehr hässliche Wohnblocks für die Belegschaft.
In den letzten Jahrzehnten ist aus der einstigen Landstraße eine chronisch überlastete Trasse geworden, die das Stadtzentrum mit einer ständig wachsenden Zahl von Schlafquartieren verbindet. Ihr Name hat dadurch eine weitere ironische Bedeutung hinzugewonnen: Wer tagtäglich auf der Chaussee der Enthusiasten im Dauer-Stau steht, muss ein wahrer Enthusiast sein. Oder eben abhängig beschäftigt.
Doch bald soll der Name einen positiven Klang bekommen: An der Stelle der seit Jahren leer stehenden Fabrik soll in den nächsten zehn Jahren eine prestigeträchtige Wohnanlage namens „Symbol“ entstehen. Wie die teils amöbenartig geschwungenen, teils futuristisch in den Himmel ragenden Gebäudekomplexe letztendlich wirklich aussehen werden, bleibt abzuwarten, denn jede der beteiligten Firmen (der russische Developer Donstroy, LDA design und UHA London) präsentiert etwas andere Visualisierungen. Mit Sicherheit aber – das zeigt die Erfahrung – wird es nicht ganz so viele schön grüne Bäumchen geben.

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