Zu Gast: Im Museum der russischen Lebensläufe

Freitag, 22. April 2016

Detail der medusenartigen Leuchte im Treppenhaus der Villa Rjabushinski
In der Malaja Nikitskaja steht zwischen der Himmelfahrtskirche und einem hohen Mietshaus, verdeckt von dichten Bäumen, die Villa Rjabushinski. Nur ihr markantes Portal blitzt zwischen den Ästen hervor. Erst beim Nähertreten sind der Mosaikfries mit stilisierten Irisblüten und Fenster, deren Sprossen wie Bäume geformt sind, zu erkennen. Das Portal aber sichert ein dickes Vorhängeschloss; und wenn durch die verstaubten Fensterscheiben kein Lichtschein dringen würde, müsste man annehmen, das Haus stehe leer. Von der Seitenstraße aus gelangt man über den ehemaligen Dienstboteneingang schließlich doch in die Villa, in der sich die Museums-Wohnung von Maxim Gorki (Максим Горький) befindet. Ein großer Teil der Besucher jedoch dürfte nicht wegen des vordersten Schriftstellers des Sozialistischen Realismus kommen, sondern wegen Franz bzw. Fjodor Schechtel (Фёдор Шехтель), dem dritten großen Namen, der mit diesem Haus verbunden ist.
Die Villa Rjabushinski im Winter
Nichts gegen Bäume. Aber es gibt Stellen, wo sie einfach mal stören. Schechtel hatte die Villa Rjabushinski einst ganz anders in Szene gesetzt.
Doch der Reihe nach: Im Jahre 1900 wünschte sich der junge Bankier Stepan Pavlovitsch Rjabushinski (Степан Павлович Рябушинский), der später zusammen mit seinem Bruder die erste Automobilfabrik Russlands „AMO“ gründete, eine Stadtvilla, die sowohl seinen Reichtum als auch seine Kunstsinnigkeit widerspiegeln sollte. Er beauftragte den erfolgreichen Self-made-Architekten Schechtel, der damals noch den Vornamen Franz trug. Weil er wegen zu unregelmäßiger Teilnahme an den Vorlesungen von der Akademie geflogen war, hatte er keinen Abschluss und durfte lange Zeit nur als Assistent „richtiger“ Architekten an Bauprojekten mitwirken. Dank seiner Beharrlichkeit und seines außergewöhnlichen Talents erhielt er nach 16 Jahren endlich die amtliche Sondergenehmigung, als selbständiger Architekt arbeiten zu dürfen (eine unvollständige Liste seiner Projekte). Als Rjabushinski an Schechtel herantrat, hatte dieser gerade einen weiteren Ritterschlag erhalten: für den russischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1900 war Schechtel mit der Silbermedaille ausgezeichnet worden.
Blick auf den Esstisch, Sessel und Flügel im Hintergrund vor dem großen Fenster.
Trotz der gedrängten Möblierung (wie hier im Esszimmer) blieb der Villa Rjabushinski ihre besondere Ausstrahlung erhalten.
Der Pavillon (in dem übrigens eine Anlage zur Destillation von Wodka präsentiert wurde) war noch weitestgehend im populären neorussischen Stil ausgeführt, doch hatte Schechtel auch zaghaft den „Neuen Stil“ aufgegriffen, der in Europa seit ein paar Jahren Furore machte. Genau das Richtige für den exzentrischen Kunstfreund Rjabushinski! Er ließ Schechtel freie Hand und setzte ihm weder gestalterische noch finanzielle Grenzen. Dieser ergriff die Gelegenheit und legte einen radikalen Entwurf vor: Vom Keller bis zum Dach plante er die Villa als Gesamtkunstwerk in einem einzigen, durchgehenden Stil, dem Jugendstil. Die grundlegende Idee dieser neuen Strömung setzte Schechtel in dieser Villa in bemerkenswerter Weise um: Von der Raumplanung über das Interieur bis hin zum Lichtschalter – alles war durchdacht, aufeinander abgestimmt und individuell gefertigt. Das Bauwerk schien wie aus einem Guss.
Die stilisierten Naturdarstellungen umfassten die Elemente Erde, Wasser und Luft, wobei sie nicht bloßes Dekor waren, sondern mystische Ideen vom Werden, Wandel und Vergehen symbolisierten. Heute ist das durchgängige Gestaltungskonzept am reinsten noch im Treppenhaus zu erleben: Die weiße Marmorwelle der geschwungenen Treppe, die kühn in einer medusenartig geformten Beleuchtung endet, ist zu der Ikone des russischen Jugendstils geworden.
Die zentrale Treppe mit Handlauf aus Marmor, Bleiglasfenster im Hintergrund
Das Treppenhaus ist – inklusive Parkett – weitestgehend im Urzustand erhalten. Einige Details wurden hinzugefügt: die Bücherschränke, die Gorki auf jedem freien Quadratzentimeter platzierte, sowie die Stühle, die zur Museumseinrichtung gehören.

Der Sitzplatz unterhalb der Beleuchtung konnte beheizt werden. Diese Anlage funktioniert, ebenso wie die zentral gesteuerte Belüftung des Hauses, seit der Nationalisierung im Jahre 1917 nicht mehr.
Die einzige Vorgabe, die Rjabushinski machte, blieb lange Zeit geheim: Die Villa sollte eine Hauskapelle beherbergen, die allerdings versteckt liegen und nur über einen Geheimgang erreichbar sein sollte. Die Rjabushinskis nämlich gehörten der verbotenen Gemeinschaft der Altgläubigen (старообрядцы) an, die sich im 17. Jahrhundert von der offiziellen Kirche abspaltete, da sie die Reformen des Patriarchen Nikon ablehnte. Seitdem ging sie dem alten orthodoxen Ritus im Verborgenen nach.
Außerdem sollte die Villa Platz für Rjabushinskis Ikonensammlung und eine Restaurierungswerkstatt bieten. Die Sammlung, die zu den herausragendsten in Russland zählte, ging nach der Oktoberrevolution teilweise in die Bestände der Tretjakov-Galerie und des Historischen Museums über, viele Ikonen kamen aber auch in den Kunsthandel. Doch Rjabushinski war nicht nur ein passionierter Sammler, er regte auch erstmals eine systematische Forschung und eine wissenschaftlich fundierte Restaurierung von Ikonen an. Zudem organisierte er 1913 eine Ausstellung und plante wohl auch, in der Villa Rjabushinski ein Ikonen-Museum zu eröffnen.
Blick zur oberen Etage: Hinter einer Säule mit floralem Kapitel ist eine Büste von Gorki zu sehen.
Hinter der mächtigen Säule mit dem von Echsen und Lilien umrankten Kapitel führt ein Gang zur Hauskapelle, deren Kuppel von der Straße aus nicht sichtbar ist.
Doch dann kam das Jahr 1917. Die Rjabushinskis flohen in das italienische Milano, ihr Besitz wurde nationalisiert. Die Villa, die nicht nur optisch sondern auch technisch auf dem allerneuesten Stand war, musste in der Folgezeit einige Federn lassen. Bis sie im Jahre 1932 (manche Quellen geben das Jahr 1931 an) an Gorki übergeben wurde, beherbergte sie zeitweise einen Teil des sowjetischen Außenministeriums, das Staatliche Psychoanalytische Institut sowie den Kindergarten des Allrussischen Zentralkomitees, in dem auch der Nachwuchs von Stalin und Frunse erzogen wurde. In dieser Zeit verschwanden sämtliche von Schechtel kreierten Möbelstücke, Lichtschalter und Leuchten; der imposante Marmorkamin im Esszimmer wurde heraus gerissen und das ausgeklügelte Belüftungs- und Heizungssystem des Hauses zerstört. Immerhin blieben die zentrale Treppe, Türen und Fenster inklusive der Beschläge, Teile der Decken- und Wandgestaltung und sogar das Originalparkett erhalten.
Auf dem runden Tisch in der Bibliothek steht eine Vase mit Kunstblumen. Im Hintergrund ist ein chinesische Vase auf dem Fensterbrett zu sehen.
Gorki soll über die großzügigen Fenster im Erdgeschoss nicht gerade glücklich gewesen sein. Trotz seiner staatstragenden Stellung wurde er rund um die Uhr bewacht – dank solcher Fenster kein Problem.
Auch für den Architekten der Villa Rjabushinski brach eine schwere Zeit an. Während des Ersten Weltkrieges hatte der von Wolgadeutschen abstammende Franz Albert (Франц-Альберт) seinen Namen in Fjodor Osipovitsch (Фёдор Осипович) russifizieren lassen und den russisch-orthodoxen Glauben angenommen. Geschäftlich nutzte ihm das wenig, denn während des Krieges wurden die meisten Bauvorhaben aus Geldmangel eingestellt. Nach der Oktoberrevolution bekleidete er zwar noch eine Anzahl akademischer Positionen; diese brachten ihm aber kein Einkommen, das ihn und seine Familie ernähren konnte. Bauaufträge blieben weiterhin aus. Obwohl er unentwegt an Wettbewerben teilnahm, unter anderem für das Lenin-Mausoleum, sollte er bis zu seinem Tod nur noch einen einzigen, kleinen Auftrag erhalten: den Bau des Pavillons der Teilrepublik Turkestanauf der Moskauer Landwirtschaftsausstellung von 1923. Völlig verarmt lebte der einstmals berühmte Architekt mit seiner Tochter zuletzt in einer Kommunalka, wo er im Sommer 1926 nach einer schweren Erkrankung verstarb.
Schreibmaschine, Tischlampe und Telefone im Zimmer des Sekretärs
Gorkis Sekretär arbeitete in einem kleinen, mit Büchern vollgestopften Raum im Erdgeschoss. Gerüchten zufolge hatte er etwas mit dem plötzlichen Tod von Gorkis Sohn zu tun.
Der alte Besitzer der Villa Rjabushinski war ins Exil nach Italien gegangen, der neue dagegen kehrte aus Italien zurück: Anfang der dreißiger Jahre gab Maxim Gorki dem Drängen der sowjetischen Führung nach, die den großen, proletarischen Schriftsteller gern bei sich, im Arbeiter- und Bauernstaat, haben wollte. Er verließ Sorrento in Richtung Moskau, wo ihm die Villa Rjabushinski zur Verfügung gestellt wurde. Vorab hatte er sich in einem Brief mit Nachdruck gegen eine Unterbringung in Palästen, Kirchen (sic!) oder sonstigen elitären Bauwerken verwahrt. Als Schriftsteller des einfachen Volkes wollte er ebenfalls in einfachen Verhältnissen leben.
Dass Gorki dann anstandslos eine durchgestylte Fabrikantenvilla bezog, ist aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar. Zu jener Zeit aber galt der Jugendstil als rückständig und wurde als „verrotteter Formalismus“ gegeißelt. Gorki wohnte also inmitten der letzten, dekadenten Auswüchse einer dem Untergang geweihten Ausbeutergesellschaft. So gesehen war das wenig prestigeträchtig – faktisch aber lebte Gorki im Vergleich zur Bevölkerungsmehrheit geradezu königlich: Er hatte für sich und seine Familie sowie für seine 12.000 Bände umfassende Bibliothek ein gesamtes Haus (mit Garten!) zur Verfügung. Außerdem besaß er Datschen im Moskauer Umland und auf der Krim.
Bett und Nachttische Gorkis.
Während die Familie seines Sohnes im Obergeschoss wohnte, belegte Gorki das gesamte Untergeschoss. Hier befand sich auch sein Schlafzimmer.
Gorki scheint seinem neuen Heim wenig Interesse entgegen gebracht zu haben, jedenfalls beließ er es ohne tiefgreifende Renovierungen oder Umbauten im alten Zustand. Er stellte nur sämtliche Zimmer mit Schränken voll, in denen er Bücher und seine Kunstsammlung verstaute. Schechtel würde sich im Grabe umdrehen – auch angesichts der wuchtigen Ledersessel und Schreibtische, die Gorki mitbrachte. Die erstaunlich kleinbürgerliche Schlafzimmereinrichtung wird sogar auf der Ausstellungstafel kommentiert: Sie sei nur ein Gelegenheitskauf gewesen und entspräche nicht unbedingt dem Geschmack des Schriftstellers, heißt es da fast entschuldigend.
Drachenfigur und Fläschchen in einer Vitrine
Wie schon Rjabushinski, so hatte auch Gorki das Sammelfieber gepackt. Doch statt alter Ikonen häufte er chinesische Vasen und Figuren an.
Trotz des Verlustes der ursprünglichen Einrichtung umgibt das Haus noch immer eine besondere Aura. Jedes Zimmer, jeder Winkel atmet Geschichte. Hier gelang das in Russland seltene Kunststück, ein Bauwerk in seiner Substanz nahezu unangetastet über die Zeiten zu retten. Das ist vor allem Gorkis Schwiegertochter Nadeshda Aleksejevna Peshkova (Надежда Алексеевна Пешкова) zu verdanken. Nach Gorkis Tod im Jahre 1936 blieb sie in dem Haus wohnen und konservierte seinen Zustand mit dem Ziel, ein Museum zu Ehren des Schriftstellers einzurichten. Mittlerweile könnten Garten und Gebäude eine vorsichtige Instandsetzung vertragen. Auch die Ausstellung selbst könnte besser präsentiert werden. Bestimmt wären die Besucher bereit, dafür zu zahlen – bislang ist der Eintritt nämlich kostenlos. Nur das Fotografieren kostet 100 Rubel, also einen halben Milchkaffee in einem durchschnittlichen Moskauer Café. Jedoch muss sich jeder Besucher handschriftlich mit Namen, Wohnort und Beruf in das Besucherbuch eintragen. Auf diese Weise sind alle Besucher seit der Eröffnung des Museums im Mai 1965 lückenlos erfasst – ein Fest für Soziologen und Graphologen!
Affenfiguren auf dem mit grünem Stoff bezogenen Schreibtisch
Auf dem geräumigen Schreibtisch in Gorkis Arbeitszimmer ist nicht nur Platz für Stifte und Papier.
Um Gorkis Tod ranken sich – wie um den seines Sohnes – hartnäckige Gerüchte. Das ohnehin getrübte Verhältnis zu Stalin war im Sommer 1935 auf dem Tiefpunkt angelangt. Gorkis Vergehen hatte darin bestanden, seine Teilnahme an dem von Ilja Ehrenburg organisierten Internationalen Schriftstellerkongress in Paris wegen einer schweren Tuberkulose-Erkrankung abzusagen. Danach stand er unter permanenter Beobachtung und verließ die Villa Rjabushinski kaum noch. Sein Tod im darauffolgenden Jahr beendete den Zwist. Nun konnte der Vorzeigeschriftsteller in allen Ehren an der Kreml-Mauer beigesetzt werden. Auch sein Gehirn befindet sich in bester Gesellschaft: Zusammen mit den Hirnen vieler anderer sowjetischer Größen steht es als Präparat in der Sammlung des Neurologischen Institutes in Moskau.
Adresse:
Музей-квартира А. М. Горького / Особняк С. П. Рябушинского
Museums-Quartier Maxim Gorkis / Villa Rjabushinski
Малая Никитсая улица, дом 6/2, строение 5
Malaya Nikitskaya ulitsa, Nr. 6/2, Gebäude 5

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